
2. Advent 2021 - Lebensfreude
Karin sitzt im Zug von Graz nach Linz. Zu ihren Füßen liegt ihr Blindenführhund Amigo. In ihren Ohren befinden sich Kopfhörer für ihr iPhone, das sie lachend mit Sprache und völlig schwarzem Display bedient. Schnell diktiert sie noch eine WhatsApp, drückt offensichtlich auf „Senden“, nimmt die Stöpsel vom Ohr, legt ihr Handy beiseite, streichelt ihren Amigo und kuschelt sich mit einem wohligen Lächeln in den Sitz.
Marietta, die Frau, die ihr gegenübersitzt, hat Karin ganz fasziniert beobachtet. Als Karin wieder die Augen öffnet, wagt Marietta, die junge Frau anzusprechen: „Entschuldigen Sie meine neugierige Frage! Wie ich an ihrer Kennzeichnung sehe, sind Sie blind, oder? Ich habe Sie beobachtet. Bereits am Bahnsteig habe ich Sie einsteigen sehen. Ich bin absolut fasziniert, wie das so funktioniert. Sie geben Ihrem Hund Kommandos: „suche Tür, suche Sitzplatz“, Sie berühren, setzen sich hin, der Hund liegt zu Ihren Füßen und dann nehmen Sie noch als Krönung des Ganzen Ihr Handy zur Hand und bedienen es als wäre dies das selbstverständlichste für einen blinden Menschen!“
Karin lächelt und antwortet: „Ich bin glücklich und lebe in derselben Welt wie Sie und doch ist meine Welt eine andere. Ich bin nicht blind geboren, eine MS-Erkrankung hat mit 24 Jahren mein Leben völlig verändert. Nach dem ersten Schub war ich auf einem Auge blind, leider folgte dem noch ein zweiter, der mich motorisch eingeschränkt hat und mein zweites, bis dahin noch intaktes Auge, auch betroffen hat. Es folgte ein ziemlich steiniger und schwieriger Weg, oft war ich knapp daran aufzugeben. Alles was für andere Menschen selbstverständlich erscheint wurde für mich zu einer fast unüberwindbaren Hürde! Im Blindenverband, zu dem mich meine Mutter, anfangs ganz und gar gegen meinen Willen, überredet hat, lernte ich Menschen kennen, die mein Schicksal teilten. Ich hörte, wie sie lachten, wie die ulkigsten Blindenwitze erzählt wurden, wie man sich gegenseitig Tipps und Ratschläge gab und welche absolut faszinierenden Fähigkeiten die anderen Sinne übernehmen. Als junge Frau hat mir natürlich die Kommunikation per Handy und PC sehr gefehlt – das Tor zur Welt nach außen, du bist vernetzt mit dem ganzen Globus, wenn du das möchtest! Siehe da: Hoffnung, Freude und absolute Neugier begannen in mir zu keimen. Nach einer Reha-Maßnahme, war auch ich in der Lage meine elektronischen Helferleins per Sprache und mit Shortcuts zu bedienen. Mein treuer vierbeiniger Gefährte war und ist das Sahnehäubchen am Kuchen meines Lebens.
Ich habe meine Welt akzeptiert so wie sie ist, ich bin ein Teil der Artenvielfalt der Menschen, ich habe Freude am Leben. Ich liebe, lache und weine so wie alle.“
Der Zug fuhr schon fast in Linz ein, Marietta wischte sich verstohlen die Augen und sagte ganz einfach nur: „Danke, für dieses wunderbare Gespräch. Ich habe in dieser Zugfahrt sehr viel gelernt und werde die Welt der Blinden und Sehbehinderten ab jetzt mit anderen Augen betrachten.“
Dies ist eine wahre Begebenheit aus OÖ
Copyright Susanne
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